Bericht vom Wendland Marathon am 17.10.2004

Veranstalter: Interessengemeinschaft Ausdauersport (IGAS) Wendland

Laut Ausschreibung ist der Wendlandmarathon "der schönste Marathon der Welt" und - wenn man der Presse glauben mag - auch der kleinste Marathon der Welt, denn die 22 Finisher des vergangenen Jahres dürfte so schnell kaum ein anderer Veranstalter unterbieten.

Die Strecke ist nach DLV-Regeln offiziell vermessen, und da es sich um einen vom Verband genehmigten Volkslauf handelt, erschien es mir als passende Gelegenheit, das Desaster von Monschau nicht als einziges Marathon-Ergebnis für dieses Jahr stehen zu lassen.

Hinzu kommt, dass Helmut für unsere Revanche-Wette den Hamburg-Marathon im April vorgeschlagen hat, und um dort einen garantierten Startplatz zu erhalten, müsste ich in meiner Altersklasse eine Zeit von 4:15:00 vorweisen können.

Mir fehlten also genau 57,2 Sekunden, und das sollte (trotz Trainingsrückstand) auf einem flachen Kurs doch zu schaffen sein.

Insgeheim erhoffte ich mir auch sowas wie einen "Heimvorteil", denn die ersten 20 Jahre meines Lebens war auch ich Wendländerin und habe (anlässlich der Besuche bei meinen Eltern) den Kontakt zur dortigen Läuferszene nie verloren.

Die Vorfreude war also groß, und ich plante, meinen Sohn Steffen am Freitag von der Schule abzuholen - und dann direkt auf die Autobahn Richtung Norden.

Aber dann kam am Mittwoch die Nachricht, dass meine Mutter plötzlich in's Krankenhaus eingeliefert werden musste. Sie sei nicht ansprechbar, aber die Ärzte können keine Ursache finden.

Nach mehreren Telefonaten mit meinem Vater entscheiden wir uns, dass ich am Freitag auf jeden Fall erstmal "nach Hause" komme, um Mama im Krankenhaus zu besuchen. Und ob ich am Sonntag dann noch Marathon laufe, wird sich ergeben.

Der Freitag unserer Abfahrt war unglücklicherweise der letzte Schultag vor den Herbstferien, so dass ich nicht die Einzige war, die am Nachmittag auf der Autobahn unterwegs war. Die gemeldeten Staus vor dem Kamener Kreuz veranlassten mich dann, die ADAC-Karte vor’s Lenkrad zu klemmen und quer durch’s Sauerland zu fahren. Glücklicherweise ist der Rücksitz meines Autos derjenige Platz, an dem Steffen sich am liebsten aufhält, so dass er all die Stunden seine gute Laune nicht verloren hatte, bis wir endlich irgendwann am Abend bei seinem Opa ankamen.

Am nächsten Morgen lag dann die Lokalzeitung auf dem Frühstückstisch mit großer Vorankündigung des Wendlandmarathons: Hier war zu lesen, dass insgesamt vier (!) Frauen vorangemeldet sind, von denen man die Lokalmatadorin Susanne Filter favorisiert. Aber auch mir werden "gute Siegchancen" eingeräumt mit dem Hinweis, dass ich in den 70er-Jahren "zahlreiche hochkarätige Mittelstreckenkreisrekorde" aufgestellt hätte, die zum Teil heute noch gültig sind. Dass auch die Vorjahressiegerin Irmela Wilck dabei ist, wird nur nebenbei erwähnt, obwohl sie im letzten Jahr immerhin 3:47:05 gelaufen ist!

Soweit also die Vorankündigung für den nächsten Tag.

Für mich heißt es jetzt erstmal, in’s 17 km entfernte Krankenhaus zu fahren.

Glücklicherweise geht es meiner Mutter wieder deutlich besser, so dass einer Marathon-Teilnahme am nächsten Tag nichts mehr im Wege steht.

Bei meiner Ankunft in Liepe (das Dorf hat schätzungsweise 200 Einwohner) sehe ich viele bekannte Gesichter, mit denen mich zum Teil sehr viel verbindet. Nach diversen Begrüßungen hole ich meine Startnummer ab und bezahle meine 10 Euro Startgebühr - auch dieser Preis für einen Marathon ist rekordverdächtig.

Dann kommen mir plötzlich Zweifel, ob meine Asics GT-2090, die ich mir kürzlich bei Patrick in Köln gekauft habe, schon genügend eingelaufen sind. Ich entscheide mich 10 Minuten vor dem Start, die Schuhe zu wechseln und hole mir die Brooks aus dem Auto, die Ralf im Runner Shop Aachen mir verkauft hatte, um in Monschau die Wette gegen Helmut zu gewinnen . . . Nun kommen sie also hier zu ihrem Marathon-Einsatz.

Es ist zwar recht kühl, aber der Blick zum Himmel lässt hoffen, dass es im Laufe des Vormittags noch wärmer werden wird. Also gehe ich in kurzer Hose und kurzen Ärmeln zum Start. Irmela schaut mich etwas mitleidig an und fragt mich, ob ich allen Ernstes "so nackt" laufen will. Na klar will ich das, denn bezüglich meiner Bekleidung verlasse ich mich immer auf mein Gefühl - und das hat mich noch nie verlassen (Erkältungskrankheiten sind mir völlig fremd).

Start
Start des Wendland-Marathons

Der Startschuss fällt, und die Läuferzahl, die sich in Bewegung setzt, ist immerhin dreistellig, denn es sind auch 5km-, 10km- und HM-Läufer dabei, die unterwegs wieder wenden und uns Marathonis bald schon wieder entgegen kommen werden.

Das Tempo von Irmela erscheint mir arg langsam, so dass ich mich nach vorne verabschiede, um einen 5:30er Schnitt zu finden.

Neben mir postiert sich ein junger HM-Läufer (später erfahre ich, dass er Felix heißt und noch ein Jahr jünger ist als meine eigene Tochter) und erzählt mir einiges aus seinem Langstreckler-Leben - auch von seiner Teilnahme am Rennsteig-Marathon. Meine Frage, ob das für sein Alter nicht etwas viel sei, scheint ihm recht unbegründet. Allerdings hat er bereits einen "kaputten" Meniskus und einen durchgetretenen Fuß.

Felix läuft immer einen Schritt versetzt vor mir und will mich offensichtlich zu einem etwas höheren Tempo bewegen, und als ich merke, dass wir tatsächlich etwas schneller geworden sind, bremse ich ab, um wieder auf meine 5:30 zu kommen. Trotzdem bleibt mein junger Begleiter bei mir, um mir bis zu seinem Wendepunkt Gesellschaft zu leisten. Irgendwo zwischen km 8 und 9 kommt uns der 1. HM-Läufer entgegen, der - wie später aus der Ergebnisliste zu ersehen ist - aus Tübingen kommt. Entwickelt sich das Wendland doch so langsam zum Geheimtipp für Lauf-Touristen?

Als 2. kommt mit etwas Abstand der erste Einheimische: Hermann, der in 1:27:42 die M50 gewinnen wird. Mit ihm habe ich noch am Tag vor dem Heidelauf im August zusammen trainiert. Da hatte er mir von seiner Teilnahme beim Amrumer Mukoviszidose-Lauf erzählt, den ich bisher überhaupt nicht kannte. Seine Denkweise bei dieser Krankheitsproblematik hat bei mir ausgesprochen positive Eindrücke hinterlassen.

Mein jetziger Begleiter Felix lässt so eine Art Abschiedsstimmung aufkommen, denn wir befinden uns schon auf dem letzten km vor seinem Wendepunkt. Dann ist es soweit: Er verabschiedet sich und wünscht mir viel Glück.

Erst 10,5 km - und schon alleine? Das darf nicht sein. Ich blicke mich um und finde direkt hinter mir einen Gleichgesinnten - Holger, ein M50er aus Hamburg.

Sein Ziel ist es, unter 4 Std. zu laufen. Das klingt auch für mich gut, und wir beschließen, dieses Ziel ab jetzt gemeinsam zu verfolgen.

Da Holger fast jedes Wochenende irgendwo einen Marathon läuft, kann er sein Tempo sehr gut einschätzen, so dass wir unsere 5:30 wie ein Uhrwerk einhalten.

Ich genieße die wunderschöne Landschaft und stelle fest, dass ich das in meiner Jugend gar nicht zu schätzen gewusst habe.

Plötzlich werden wir von einer Radfahrerin überholt, die sich nach unserem Befinden erkundigt und fragt, ob wir etwas brauchen. Holger nimmt eine Banane, und wir bedanken uns für den Super-Service, denn zusätzlich zu diesem mobilen Dienst sind alle 5 km perfekte Verpflegungsstationen mit reichhaltigem Angebot eingerichtet.

An jeder dieser Stationen halten wir an, um ausreichend zu trinken.

Die Stimmung ist gut, und kein Problem ist in Sicht.

Etwa bei km 18 kommt uns der erste Läufer mit deutlichem Vorsprung entgegen.

Von hinten überholt uns Silvia per Fahrrad, und auch sie überzeugt sich davon, dass es uns an nichts fehlt.

Kurz bevor wir selbst den Wendepunkt erreichen, taucht plötzlich Detlef auf - der Sportredakteur der Elbe-Jeetzel-Zeitung, den ich schon seit vielen Jahren kenne. Er macht kurz ein Foto von uns und ruft mir zu, dass ich erste Frau bin und dass die Zweite 200 Meter hinter uns sei - eine Auswärtige, die er nicht kennt.

Ein paar Meter weiter steht Antje am Streckenrand, mit der ich schon vor 30 Jahren zusammen gelaufen bin. Sie warnt mich davor, schneller zu werden, denn bis zum Ziel sei es noch weit. Ich versichere ihr, dass es mir ausgesprochen gut geht und ich optimistisch bin, dieses Tempo durchlaufen zu können.

Dann kommt der Wendepunkt. Detlef ist schon wieder da und macht noch ein Foto.

Holger und Gisela
Holger und Gisela

Ab jetzt "nur noch" HM, und ab jetzt können wir auch sehen, wer hinter uns ist. Die 200 Meter Abstand zu meiner Verfolgerin (mittlerweile weiß ich, dass sie aus Darmstadt ist) stimmen ungefähr, aber auch Irmela und Susanne sind nicht weit weg.

Holger macht mich darauf aufmerksam, dass wir schneller geworden sind, und wir beschließen, wieder unseren 5:30er-Rhythmus zu suchen, um kein Risiko einzugehen.

Etwa bei km 26 oder 27 kann Holger das nicht mehr beibehalten und muss etwas langsamer werden. Ich bleibe zwar noch etwas bei ihm, aber dann kommt doch der Moment des Abschieds, und jeder von uns läuft allein weiter.

Gedankenversunken komme ich wieder an den Deich der Elbuferstraße und versuche zu erkennen, was sich dahinter befindet. Und dann passiert’s: Auf einmal höre ich weit hinter mir lautes Schreien. Ich drehe mich um und erkenne Holger, der mir durch entsprechende Armbewegungen deutlich macht, dass ich zurückkommen muss, und er schreit nochmal aus Leibeskräften: "Rechts!"

Also laufe ich zurück und erkenne, dass ich die deutlich markierte Abzweigung verpasst hatte. Nun bin ich also wieder bei Holger und überlege, ob ich zu meiner eigenen Sicherheit nicht doch besser bei ihm bleiben soll, denn auch sein Tempo dürfte für eine Zeit unter 4 Std. reichen. Aber Holger fordert mich sehr nachdrücklich auf, meinen 5:30er-Schnitt weiterzulaufen.

Ab km 30 bin ich also endgültig allein unterwegs - kein Mensch weit und breit.

Ein paar Feuerwehrleute, die bei einer Straßenüberquerung den Verkehr anhalten, applaudieren. Und bei der letzten Verpflegungsstelle hatte man vorher offensichtlich eine Wette abgeschlossen, für welches Getränk ich mich entscheide.

Hin und wieder drehe ich mich um, aber da ist auf mehrere hundert Meter niemand mehr zu sehen. Es wundert mich etwas, dass es mir immer noch gut geht, denn nach dem Monschau-Marathon hatte ich keinen einzigen langen Lauf mehr gemacht - das längste war der Rur-Wurm-Lauf mit 14 km. In diesem Moment, als ich wusste, dass ich gleich im Ziel war, habe ich diesen Trainingsrückstand als Vorteil gewertet, denn bis zum Hamburg-Marathon sind’s noch 6 Monate, und da es reine Spekulation ist, in welchem Umfang die jetzige Zeit noch steigerbar ist, behält die Wette gegen Helmut ihren Reiz.

Gisela im Ziel
Gisela im Ziel

Nun ja - in Liepe habe ich nach 3:51:07 Std freudestrahlend das Ziel erreicht und damit erstmals die Frauen-Wertung eines Marathons gewonnen.

Die Darmstädterin, die später berichtete, dass dies ihr erster Marathon war, hat mit 4:00:22 die 4-Std-Marke knapp verpasst. Aber auch die Leistung von Irmela verdient hohe Anerkennung, denn 4:03:10 in der W60 ist einfach Klasse..

Und die Tatsache, dass die letzte Frau immerhin noch 4:10:54 erreicht hat, macht sehr deutlich, dass man das Niveau des Wendlandmarathons nicht unterschätzen sollte.

Die Zahl der Gesamt-Finisher hat sich von 22 im vergangenen Jahr auf 30 erhöht - das bedeutet eine Steigerung von 36 %. Wenn das so weitergeht...

Bei der Siegerehrung gab’s dann für die Frauen-Siegerin einen 5kg-Sack Nudeln.

Davon werde ich Helmut ein paar abgeben, damit er vor Hamburg seine Glykogenspeicher noch auffüllen kann, um nicht ganz chancenlos an den Start zu gehen ;-)

 

Gisela



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